Update

Aachen

Achtung, ich bin Armchair-Epidemiologe.

Ziele

Angela Merkel am 6. April 2020 zur dieser Reihenfolge:

Es wird zum Schluss immer darauf ankommen, dass wir bei aller Notwendigkeit des wirtschaftlichen Handelns den Gesundheitsschutz vorne anstellen. Denn so wie viele sich wünschen, dass es jetzt schnell vorangehen möchte, so wird die Diskussion, wenn die ersten Menschen sterben weil wir zu schnell gehandelt haben und unser Gesundheitssystem den Belastungen nicht mehr standhalten wird, sich sofort ins Gegenteil verkehren. Und es wäre ganz schlecht, wir würden zu schnell voranschreiten, um dann sozusagen wieder alles zurücknehmen zu müssen; das versuchen wir zu vermeiden, immer bei der Maßgabe nicht unser Gesundheitssystem zu überlasten.

Um das nochmal plakativer zu formulieren: Falls wir die Maßnahmen zu früh zu weit lockern und dann deswegen in ein paar Wochen oder Monaten da sind, wo Italien oder Spanien die letzten Wochen über waren, dann wäre dem Einzelhandel damit auch nicht geholfen.

Marathon

Lasst uns mal fröhlich davon ausgehen, dass wir zu Weihnachten 2020 einen Impfstoff gefunden haben und bis Silvester (wie durch ein Wunder) genug davon hergestellt haben, um alle zu impfen. Ende 2020 wären dann also alle immun und die Corona-Krise wäre vorbei. Dann können wir jetzt anfangen uns in die Tasche zu lügen das Gedankenspiel starten und uns erstmal nur bis zum Ende des Jahres Sorgen machen:

Datum
9. März Erste Maßnahmen (Absage großer Veranstaltungen)
23. März Umfassendes Kontaktverbot
20. April heute
24. Dezember Wunschtraum: Impfstoff! alle direkt gesund

Mein Hirn kann mit Zahlen schlecht umgehen, deswegen nochmal grafisch:

Jan
Feb
März
April
Mai
Juni
Juli
Aug
Sep
Okt
Nov
Dez
wohooo
Karneval!
M.
Kont.-
Verb.
Probleme
Probleme
Probleme

Im Vergleich zu den etwa 1.5 Monaten, die die Maßnahmen schon dauern, müssen wir noch etwa 8 Monate länger mit Corona auskommen. Also selbst wenn wir davon ausgehen, dass schon Ende Dezember alle geimpft sind und die Krise dann tatsächlich per Fingerschnips “vorbei” ist – das ist noch ganz schön lange hin!

Reproduktionszahl R

Die Reproduktionszahl R habe ich zum ersten Mal von maiLab erklärt bekommen; Angela Merkel hat das ja am Mittwoch auch nochmal gemacht. Aber nochmal in einem Satz: Jede mit Corona infizierte Person steckt (im Durchschnitt) R viele andere Personen an.

Interessant ist der Wert, weil man sehr einfach sieht, ob wir eine exponentielle Ausbreitung (R > 1.0), eine lineare Ausbreitung (R = 1.0) oder eine sich verlangsamende Ausbreitung (R < 1.0) haben. Auf der Pressekonferenz vom 15. April 2020 zur ersten Lockerung der Maßnahmen hat Angela Merkel außerdem folgendes gesagt:

Und wir haben Modellbetrachtungen gemacht, wir sind jetzt ungefähr bei dem Reproduktionsfaktor 1.0, also einer steckt einen an. […] Schon wenn wir darauf kommen, dass jeder 1.1 Menschen ansteckt, dann sind wir im Oktober wieder an der Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems mit den angenommen Intensivbetten. Wenn wir 1.2 [haben], also von 5 Menschen steckt einer zwei an und vier einen, dann kommen wir im Juli schon an die Belastungsgrenze unseres Gesundheitssystems und bei 1.3 […] sind wir im Juni an der Belastungsgrenze unseres Gesundheitssystems.

Um die interessante Information mal aus diesen langen Sätzen zu extrahieren:

R ist langfristig auf… Gesundheitssystem überlastet ab…
1.1 Oktober
1.2 Juli
1.3 Juni

R-Schätzungen des RKI

Leider ist R keine direkt messbare Größe, deswegen wird der Wert vom RKI nur geschätzt. Ich empfehle der interessierten Leserin die Lektüre der Voraberöffentlichung vom RKI, in der sie erklären wie sie auf ihre Schätzwerte kommen. Für ein wissenschaftliches Paper find ich das ziemlich verständlich formuliert, auch für Ahnungslose wie mich. Eigentlich wollte ich das auch nachrechnen, aber dazu bräuchte man die Zahl der Infizierten nach dem Tag, an dem die Symptome begonnen haben; und diese Daten sind nicht öffentlich oder ich war zu doof oder zu faul sie zu finden.

Die Schätzwerte vom RKI vom 6. März bis zum 9. April kann man in der Voraberöffentlichung aus einem Plot ablesen, außerdem stehen tagesaktuelle Schätzwerte ab dem 7. April in den täglichen Situationsberichten. Ich hab die dementsprechend gesammelt, vor allem weil ich diesen Plot hier sehen wollte:

Der Wert der effektiven Reproduktionszahl R (wie vom RKI geschätzt) im Verlauf vom 6. März bis zum 20. April. In rot markiert: R = 1.0 und R = 1.1.

Quellen: Das Paper vom RKI über die Schätzung des R-Wertes enthält in Abb. 4 einen Plot der Schätzwerte. Am 9. April wurde die erste Vorab-Version veröffentlicht (Paper v1), am 15. April die zweite (Paper v2); da habe ich jeweils die Werte ab dem 6. März mit zwei Nachkommastellen über den Daumen gepeilt aus dem Plot abgelesen. Ab dem 7. April stehen die aktuellen Schätzwerte auch in den täglichen Situationsberichten des RKI (Situationsbericht). Für den 19. April gab es vom RKI aufgrund einer “technischen Umstellung” keine Schätzung im täglichen Situationsbericht. Fehler beim Abschreiben schließe ich selbstverständlich nicht aus.

Die “tagesaktuellen” Werte aus den Situationsberichten scheinen eine größere Unsicherheit zu haben, ich vermute die basiert auf der Meldeverzögerung der Gesundheitsämter und der damit verbundenen Unsicherheit, wieviele Fälle es am Tag selbst gegeben hat.

Den Plot habe ich unter anderem auch deswegen gemacht, weil ich nachvollziehen wollte, ob R sich die letzten Wochen wirklich “um 1 herum” aufgehalten hat, wie ich die Tage öfter in den Medien gehört habe. Bis gestern Abend kannte ich nämlich nur die erste Version des Papers und die täglichen Situationsberichte, da sah die Lage für mich natürlich etwas anders aus. Aber ich vermute die Daten aus der zweiten Version (die ja auch am 15. April schon veröffentlicht wurde) sind die, auf die die Leute™️ sich bei der Aussage beziehen.

Szenarien im Helmholtz-Statement

Die Helmholtz-Initiative “Systemische Epidemiologische Analyse der COVID-19-Epidemie” hat am 13. April 2020 eine Stellungnahme veröffentlicht zu dem Thema (siehe Bericht im MDR. (Auch die ist ganz knapp und sehr verständlich geschrieben, ich empfehle die Eigenlektüre und fasse trotzdem kurz zusammen.) Die stellen drei Szenarien vor und betrachten rein die epidemiologischen Auswirkungen, nicht die sozialen oder wirtschaftlichen:

Szenario 3 ist dann auch die Empfehlung der Helmholtz-Initiative. (Und ja, die Strategie entspricht in etwa dem, was auch im maiLab Video vorgeschlagen wurde.)

Ich hasse Lesen, mal mir ein Bild

Lockerung der Maßnahmen

Einer der am Helmholz-Statement beteiligten Wissenschaftler, Prof. Meyer-Herrmann, sagt dazu im ZDF heute journal:

Der Kompromiss kommt sicherlich daher, dass wir auch die Wirtschaft am Laufen halten müssen. […] Epidemiologisch gesehen ist jede Lockerung falsch. Da kann man gar nicht drumrum reden, auch diese Lockerung ist epidemiologisch falsch. Und gerade weil wir wissen, dass die Reproduktionszahl bei 1 liegt, ist natürlich jede Lockerung, wenn sie irgendeine Auswirkung hat, im Endeffekt ein Ansteigen dieser Reproduktionszahl in einen Bereich, der letztlich wieder zu einem exponentiellen Wachstum führt.

Und auf Nachfrage nochmal zur langfristigen Strategie:

Die Regierung scheint an der Stelle jetzt die Auffassung zu vertreten, dass wir jetzt versuchen zu koexistieren, und dass wir durchhalten bis wir einen Impfstoff haben zum Beispiel, oder ein Medikament. Das ist eine Philosophie, die uns wahrscheinlich lange bremsen wird, und eigentlich und aus wirtschaftlichen Aspekten finde ich es falsch, weil wir dadurch über lange Zeit mit einer Handbremse weiterfahren werden. Ich hätte, glaube ich, es bevorzugt, wenn wir versucht hätten mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln eine wirkliche totale Bremse zu ziehen, damit wir in einer absehbaren Zeit zu einer großen Normalität zurückkehren können. Das ist im Moment jetzt, wenn wir versuchen die Reproduktionszahl um 1 zu halten wahrscheinlich nicht möglich, sondern wird sehr lange dauern.

Was soll das hier

Die Strategie, die Maßnahmen erst zu verschärfen, um dann die wenigen einzelnen Neuinfektionen besser containen zu können und den “Normalzustand” für alle erträglicher zu machen, hat mir eingeleuchtet, seitdem ich sie bei maiLab das erste Mal gehört habe. Und deswegen glaube ich bzw. habe ich die Sorge, dass die Lockerungen gerade zu früh kommen – aber ich bin auch nur Armchair-Epidemiologe.

Hab ich damit Recht? Who knows! Hoffentlich nicht! Aber das werden wir vermutlich eh erst in zwei Wochen sehen und ich bin halbwegs sicher, dass das in dem Fall dann wieder entsprechend korrigiert wird.

Denn, und was mir eigentlich viel wichtiger ist: Ich nehme unserer Bundeskanzlerin ab, dass sie die Pandemie ernst nimmt; ich nehme ihr ab, dass sie sich ernsthaft und angestrengt um das Wohl der deutschen Bevölkerung bemüht (und vor allem um das gesundheitliche Wohl); und ich nehme ihr ab, dass sie die Grundrechtseinschränkungen, die die Maßnahmen bedeuten, nicht leichtfertig in Kauf nimmt. Und auch insgesamt habe ich den Eindruck, dass wir in Deutschland verhältnismäßig erwachsen mit Corona umgehen. Alles das sollte natürlich eine Selbstverständlichkeit sein, aber es gibt genug Personen und Länder, für die ich das anders beurteilen würde.

Also, toi toi toi und gute Gesundheit!

PS: 50 ist keine Zahl.